Forschungsprogramm

Ausgangspunkt des Promotionskolleg „Dialektik der Teilhabe“ ist die Annahme, dass die Entwicklungsdynamik moderner, demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften ein Doppelgesicht aufweist: Der historischen Bewegung einer institutionellen Garantie und Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten korrespondiert die Gegenbewegung ihrer Verweigerung und Einschränkung – die Öffnung und Schließung von Teilhaberäumen gehen in der Geschichte der Moderne Hand in Hand. Diese gesellschaftsstrukturelle Doppelbewegung wird im Kontext des Kollegs in der Figur der Dialektik gefasst. Die analytische Rede von einer „Dialektik der Teilhabe“ verweist auf die Abgrenzung von einseitigen wissenschaftlichen Narrativen, seien es nun solche eines säkularen gesellschaftlichen Fortschritts oder aber eines in der jüngeren Vergangenheit sich vollziehenden Rückschritts der (spät)modernen Gesellschaftsformation. Der Eindimensionalität dieser Deutungen von Geschichte und Gegenwart, die nicht selten mit der retrospektiven Idealisierung eines „goldenen Zeitalters“ der westlichen Moderne einhergehen (Nullmeier 2017), und ihrer mechanischen Vorstellung einer historischen Abfolge von Progression und Regression, Inklusion und Exklusion, ist ein komplexeres, zweideutiges Panorama entgegenzusetzen. Zu ergründen ist die strukturelle Kopplung von Prozessen des gesellschaftlichen Fort- und Rückschritts, das funktionale Zusammenspiel von Dynamiken der Öffnung und Schließung und damit die widersprüchliche Einheit von sozialen Mechanismen, die den Zugang zu und den Ausschluss von sozialen Teilhaberäumen strukturieren. Analytisch werden hierfür drei Untersuchungsfelder unterschieden: räumliche Mobilität, soziale Mobilität und politische Mobilisierung.

Räumliche Mobilität: Relationale Un-/Beweglichkeit

Die politische und administrative, ökonomische und soziale Organisation von Raum ist ein wesentlicher Faktor der Strukturierung gesellschaftlicher Ein- und Ausschlüsse. Das gilt z.B. für die infrastrukturelle Ausstattung lokaler oder regionaler Räume, die Mobilität wahlweise ermöglichen, überflüssig machen oder erzwingen; ebenso aber auch für die staatliche Organisationsform gesellschaftlicher Gemeinschaften, die durch die ungleiche „Macht der Reisepässe“ Möglichkeiten vorübergehender und dauerhafter grenzüberschreitender Bewegungen qua Staatsbürgerschaft entweder eröffnet oder aber verschließt und damit Lebenschancen maßgeblich beeinflusst (Milanović 2012). In ihrer allgemeinsten Form spannt sich die Verteilungsstruktur des „Mobilitätshandelns“ zwischen den Polen einerseits der freiwilligen und unfreiwilligen Mobilität, andererseits der ermöglichten und erzwungenen Immobilität auf (de Haas 2014). Die im Rahmen des Kollegs zu bearbeitenden Promotionsprojekte bewegen sich analytisch in diesem Spannungsfeld. Thematisch können sie sich auf die gesamte empirische Bandbreite individueller wie kollektiver räumlicher Mobilitätsphänomene beziehen.

Soziale Mobilität: Relationale Auf-/Abstiege

Widersprüchliche Prozesse sozialer Mobilität bilden den Gegenstand des zweiten Spannungsfeldes. Als theoretisch-konzeptionelles Verbindungsglied zur räumlichen Mobilitätsdimension kann Pierre Bourdieus Konzept des „sozialen Raums“ dienen. Die soziale Welt ist bei ihm relational gedacht, als ein Raum sozialer Positionen, die sich als solche erst in ihrer Beziehung – ihrer relativen Nähe oder Distanz – zu anderen Positionen bestimmen (lassen), als Platz innerhalb einer Ordnung der „Standorte“. Zugleich ist der Raum in dieser Sichtweise permanent in Bewegung, er stellt sich erst in konfliktreichen sozialen Prozessen der wechselseitigen Positionierung her, die wiederum im physischen Raum ihren materialen oder symbolischen Ausdruck finden (Bourdieu 1997). Eine solche sozial-räumliche Konzeption von Gesellschaft ermöglicht es, einseitige Erzählungen über die Erweiterung oder Beschränkung sozialer Teilhaberäume globalgesellschaftlich zu kontextualisieren und in ihrer realen Doppeldeutigkeit zu analysieren. Faktisch realisierte Aufstiegsmöglichkeiten in den industriekapitalistischen Gesellschaften, etwa von Arbeiter:innenmilieus sowie von Frauen, sind auf ein System globaler Arbeitsteilung rückzubeziehen, das den systematischen Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung von gesellschaftlichen Teilhabechancen organisiert. Solcherart doppeldeutige Prozesse sozialer Mobilität sind Gegenstand dieses zweiten Untersuchungsfeldes.

Politische Mobilisierung: Relationale Gegen-/Bewegungen

Die Bewegungen der Öffnung und Schließung von gesellschaftlichen Teilhaberäumen haben nichts Mechanisches an sich: Es sind soziale Prozesse, die als solche umstritten, ja umkämpft sind, die von real existierenden Akteur:innen initiiert und getragen, von anderen hingegen zu verhindern, aufzuhalten oder rückgängig zu machen versucht werden – und deren Ausgang dementsprechend historisch kontingent ist. Die Promotionsvorhaben in diesem Untersuchungsfeld werden sich den konflikthaften Dynamiken politisch-sozialer Mobilisierungen, Gegenmobilisierungen und Gegen-Gegenmobilisierungen widmen, die sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Lebensbereichen rund um die Frage der Öffnung und Schließung von Teilhaberäumen ranken. Dabei soll ein besonderer Fokus auf der Reaktivierung und praktischen Umdeutung des ureigenen Arbeiterinstruments des Streiks liegen: Erzieher:innenstreiks in Deutschland, Frauenstreiks in Mexiko, Argentinien und Spanien (aber auch in der Schweiz und Polen), Mietstreiks in den USA oder Klimastreiks praktisch rund um die Welt verweisen darauf, dass sich die gesellschaftlichen Teilhabekämpfe in der jüngsten Vergangenheit nicht nur diversifiziert haben, sondern zum Teil auch durchaus koordiniert und globalisiert geführt werden. Dabei befinden sich gewerkschaftliche Akteure in spezifischen Dilemmata. Zum einen stößt die nationalstaatliche und teils an formaler Staatsbürger:innenschaft orientierte Organisation der Arbeiter:innenbewegung angesichts globaler Wertschöpfungsketten und zunehmend heterogener Gesellschaften an Grenzen. Zum anderen konfligiert das legitime Interesse an der Verteidigung der historisch erreichten sozialen Teilhabeniveaus zunehmend mit der Einsicht in die ökologischen Kosten ihrer fortgesetzten Gewährleistung.

 

Ziele und Methoden

Ziel der kollektiv-kooperativen Forschungsanstrengungen im Promotionskolleg „Dialektik der Teilhabe“ ist es, einen systematischen Beitrag zur Erforschung der gesellschaftspolitisch relevanten Frage zu leisten, wie gesellschaftliche Teilhabechancen in Zukunft möglichst progressiv und emanzipatorisch gestalten werden können. Angesichts der strukturellen Kopplung von Öffnungs- und Schließungsprozessen sowie der Nicht-Verallgemeinerbarkeit der institutionalisierten Praktiken sozialer Inklusion schließt das eine Problematisierung der Idee sozialer Teilhabe als Wertbezug gesellschaftlicher Entwicklungen und sozialen Handelns auf normativer Ebene ein: Einerseits ist zu fragen, welche Formen der Teilhabe in einer konkreten gesellschaftlichen Konstellation überhaupt zur Debatte stehen und inwiefern mit politischen Teilhabeangeboten zugleich auch soziale Anpassungsanforderungen verbunden sind. Andererseits gilt es nach den in die moderne Teilhabegesellschaft eingelagerten – aber teilweise verschütteten, verhinderten und verkannten, in jedem Fall uneingelösten – emanzipatorischen Potenzialen zu fragen sowie nach den Bedingungen ihrer Universalisierung über begrenzte soziale und räumliche Kontexte hinaus.

Analytisch ist das Promotionskolleg einem methodologischen Relationismus verpflichtet, der lokale und globale Vergesellschaftungsdynamiken konsequent in Beziehung setzt. Eine solche Blickerweiterung wird im Kolleg einerseits durch die konsequente Verschränkung soziologischer, humangeographischer und historiographischer Perspektiven erreicht. Andererseits wird es Aufgabe der im Kolleg zu verfolgenden Dissertationsprojekte sein, ihren Untersuchungsgegenstand so zu konzeptualisieren, dass auch dort, wo der analytische Fokus auf dem deutschen oder europäischen Raum liegt, die globalen bzw. translokalen Bedingtheiten und Implikationen des untersuchten Phänomens systematisch in der Analyse berücksichtigt werden.